Vision
Stellen Sie sich vor, Sie wohnen am Hohenzollerndamm oder an der Bundesallee. Im Vorderhaus. Statt von Verkehrslärm werden Sie morgens von Vogelgezwitscher geweckt. Es ist still, ein paar Hummeln summen in den Blumenrabatten vor dem Haus, die Parkanlage zwischen Ihrem Fenster und der gegenüberliegenden, 60m entfernten Häuserzeile liegt in der Morgensonne. Es ist Frühsommer, die Luft riecht nach Gras, die leisen – von Ihrem Fenster aus nicht hörbaren – Rasenmähroboter haben heute Nacht den Bereich vor Ihrem Haus bearbeitet. In der Mitte des Parks auf dem Radweg fährt ein frühes Elektrofahrrad seinen Besitzer zur Arbeit.
Ihr Park ist nichts besonderes, die ganze Stadt ist autofrei. Deshalb kommen nachmittags keine Horden von Erholungssuchenden vor Ihre Fenster. Jeder wohnt da, wo er wohnt, mitten im Grünen. Früher kannte man das nur aus Sci-Fi-Filmen, dort wo die Reichen sind. Heute hat das jeder.
Hard Facts
Klingt das für Sie gut? Für mich eindeutig ja. Ich kenne niemanden, der lieber an einer achtspurigen Straße dem Berufsverkehr zusieht, als die Stille und Luftqualität gepflegter Natur zu genießen.
Der Berliner Mietspiegel sieht es ganz eindeutig auch so: eine besonders lärmbelastete Lage ist wohnwertmindernd, eine besonders stille Lage ist wohnwerterhöhend. Da die Mieten unmittelbar Einfluß auf den Wert des Hauses haben, sind Häuser am Park wertvoller als Häuser an einer achtspurigen Straße.
Politische Ansätze
Unsere Berliner Umwelt- und Verkehrssenatorin Regine Günther hat den Fehler gemacht, ihre politische Vision von einer autofreien Stadt öffentlich zu äußern. Sie hat dafür viel Kritik erhalten, sogar in der Berliner Zeitung. In meinen Augen hat sie dadurch erheblich an Format gewonnen: jemand, der sich nicht „nicht äußert“, um nirgendwo anzuecken. Jemand mit einer politischen Vision, die die Welt am Ende verbessern würde. Parteilos, also jemand, der sich nicht unterordnet, aber mit erklärter grüner Haltung. Solche Leute brauchen wir!
Umsetzungsängste
Die Berichterstattung in der Presse transportiert recht gut, welche Ängste die Idee einer autofreien Stadt auslöst: die Bewohner der Außenbezirke wissen dann nicht mehr, wie sie zur Arbeit kommen, und Gewerbetreibende fürchten um ihre Lieferstrukturen. In beiden Fällen geht es nicht um Komfort, sondern um Notwendigkeiten, d.h. es braucht dafür Lösungen.
Und genau an dieser Stelle muß man fürchten, daß die Politik ihre Ziele nicht über eine Angebotslösung, sondern durch Umerziehung zu erreichen versucht. Bekanntlich funktioniert das ja nie. Wenn die Bürger also dadurch vom Auto wegbewegt werden sollen, daß man
- durch geänderte Ampelschaltungen Staus produziert, also den Zeitaufwand der Pkw-Nutzung künstlich erhöht,
- auf großen Durchgangsstraßen Tempo-30-Zonen einrichtet, um auch insoweit den Zeitaufwand zu erhöhen,
- Dieselfahrverbote einrichtet und so den Teil der Bevölkerung, der Diesel fährt, aussperrt,
- Fahrverbotszonen einrichtet, ohne Alternativen zur Verfügung zu stellen, so daß Teile der Stadt anders als zu Fuß oder Fahrrad nicht mehr erreichbar sind,
- Parkplätze reduziert, so daß Autos nicht mehr abgestellt werden können, was den Zeitaufwand für die Suche erhöht und zugleich mehr Staus produziert, weil mehr Leute suchen,
- Gebühren einführt oder erhöht für a) Parken und b) Straßennutzung durch Fahrzeuge
- und so weiter
dann mag man damit den Verkehr zwar reduzieren. Der Weg einer Bevormundung und Umerziehung der Menschen ist aber ein repressiver. Die Akzeptanz solcher Pläne ist notwendigerweise begrenzt.
Statt dessen sollte man Angebote entwickeln, die besser sind als die heutige Situation. Auch heute kosten Fahrzeuge schon Geld, müssen Parkplätze gesucht werden, kostet Individualverkehr viel Zeit. Wenn die Politik intelligente Alternativen entwickelt, kann bei den Menschen durchaus von selbst und freiwillig der Wille entstehen, auf andere Konzepte umzusteigen, wenn diese
- weniger Zeit kosten als der individuelle Pkw-Verkehr
- nicht unbequemer sind
- günstiger sind.
Das muß nicht nur das Fahrrad sein, es gibt auch windgeschützte Varianten für wenig Anschaffungs- und laufende Kosten, siehe zum Beispiel das sehr interessante Startup Citkar. Wenn diese Geräte als Sharing-Modell angeboten, in großem Stil angeschafft und stadtweit kostenlose Ladestationen installiert werden, kann der Individualverkehr von Personen damit in erheblichem Umfang wechseln, und zwar freiwillig. Daneben braucht es massive Investitionen in den ÖPNV, damit man nicht morgens ewig in der Kälte auf Bus oder Bahn wartet und anschließend eng gedrängt mit schwitzenden oder hustenden Fremden eingesperrt ist. Deutlich höhere Frequenzen im Fahrzeugeinsatz beim ÖPNV würde beide Komfortnachteile adressieren und die Akzeptanz wesentlich erhöhen. Bei Wegfall des individuellen Pkw-Verkehrs würden Busse zudem nicht mehr im Stau stehen, die Fahrzeiten wären kürzer und die Wartezeiten damit ebenfalls. Frei werdende große Straßenflächen könnten mit Wohnungen bebaut werden. Weil die Aufenthaltsqualität in der Stadt zunimmt und mehr Wohnraum vorhanden ist, könnten die Menschen näher an ihrer Arbeit leben, die Fahrtwege würden sich reduzieren.
Ich bin weder Stadt- noch Verkehrs- noch Garten-Landschafts-Planer, aber ich bin sicher, daß massiver Brainstorming-Einsatz dieser Fachgruppen zu weiteren intelligenten Angebotslösungen führt, der einen Großteil des heutigen Verkehrs komfortabler und schneller ersetzen könnte, so daß die Menschen freiwillig umsteigen statt aus Zwang.
Ebenso wie für den ÖPNV braucht es für den Gewerbeverkehr weiterhin Straßen. Aber nicht so breite und nicht so viele wie heute. Der Liefer- und Entsorgungsverkehr wäre zudem wesentlich effizienter, weil er nicht mehr im Stau steht. Auch dadurch würde die Verkehrsbelastung sinken.
Ergebnisse
Am Ende würden wir alle in Parklandschaften leben statt in einem Verkehrsmoloch. Für die Lebensqualität und die Immobilienwerte wäre das sehr positiv.
Buchempfehlung
(als Taschenbuch hier, als ebook nachstehend)